Vom Wert des Zuhörens

Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin

4. Freiburger Symposium zu den Grundfragen des Menschseins in der Medizin.

10. Juni 2016, 12:15-19:00 Uhr, Audimax (Kollegiengebäude II)
11. Juni 2016, 09:00-18:00 Uhr, Aula der Universität (Kollegiengebäude I)



Prof. Dr. med. Peter F. Matthiessen

Leiter des Bereichs Methodenpluralität in der Medizin, Private Universität Witten/Herdecke

Abstract: »Die Kunst des Zuhörens als Verstehensquelle des Menschen in Gesundheit und Krankheit«

Eine Medizin, deren Grundverständnis und deren Anliegen es ist, den auf Fremdhilfe angewiesenen Kranken in seiner mehrdimensionalen und vielschichtigen Existenz im Sinne eines tiefere Einsichten und erweiterte Therapieoptionen erschließenden diagnostisch-therapeutischen Prozesses verstehend zu betreuen, stellt sich die Aufgabe, die Patient-Arzt-Beziehung auf die Bereitschaft und die Fähigkeit des wechselseitigen Zu-Hörens zu gründen und zu leben. Von uns Ärzten bzw. Therapeuten erfordert dies, dem hilfesuchenden Patienten die Möglichkeit der Mit-teilung einzuräumen. Und das wiederum verlangt von uns ein ärztliches Selbstverständnis und eine ärztliche Haltung, den Kranken zu Wort kommen zu lassen, ihn entgegen unserer Gewohnheit nicht mit kurz und knapp zu beantwortenden inquisitorischen Fragen zu konfrontieren, sondern ihm durch ein Narrationen förderndes Fragen Raum einzuräumen, von sich, seinen Sorgen, Nöten, Befürchtungen, Erwartungen, Hoffnungen, seinen eigenen Deutungsversuchen und Fragen erzählen zu können und dabei einen gerade daran interessierten, zuhörenden Arzt erleben zu können. –

Unter der Dominanz einer Evidence Based Medicine ist die Methode des Er-zählens weitgehend durch diejenige des Zählens abgelöst worden, was zu einer Marginalisierung des Narrativs geführt hat. Hermeneutische Verstehens- und Deutungsversuche der Sinnhaftigkeit von Krankheitsereignissen geraten so in die Gefahr, durch ein Ausschauhalten nach p-Werten aus dem Blickfeld zu entschwinden. Dabei ist es interessant, dass in jüngerer Zeit nicht nur von Vertretern der Psychiatrie, sondern insbesondere von niedergelassenen Ärzten für Allgemeinmedizin die Austarierung einer einseitig von quantitativen Methoden beherrschten und mit weitgehender Sprachlosigkeit einhergehenden Medizin durch Aufwertung einer mit qualitativen Methoden arbeitenden Narrativ Based Medicine gesucht und gefordert wird. Für eine patienten- – und also nicht nur krankheitsorientierte – Praxis bedeutet dies, nicht nur patientenseitige Narrationen zuzulassen und ernst zu nehmen, sondern zudem die Kompetenz, die am Patienten wahrgenommenen Phänomene, Zeichen und Symptome in einen erzählerischen Kontext einordnen und ihnen eine Bedeutung zuweisen zu können.

„The approach of the skilled diagnostician is the skill of an historian good at asking the right question and good at placing medical “fact” within the context of a temporal narrative that makes sense of the current constellation of symptoms and signs. A medical fact is a “medical” fact only within such a story.“ (Gatens-Robinson E: Clinical judgement and the rationality of human sciences J Med Philos 1986: 11: 167-178)

Im Rahmen meines Referates soll zudem aufgezeigt werden, dass ein sinnvolles Patient-Arzt-Arbeitsbündnis erst dadurch zustande kommt, dass die patientseitige Perspektive des Befindens, also des er-lebten und ge-lebten Krank-seins und die arztseitige Perspektive des diagnostisch gedeuteten Befundes sich als Ausdruck der Begegnung zweier Experten – wenn auch aus unterschiedlichen Blickrichtungen – wechselseitig ergänzen. –

Zudem wird dargelegt, dass sich die Bereitschaft zum bzw. die Kunst des Zuhörens keineswegs nur auf das Gesagte, sondern gleichermaßen auch auf das Nicht-Gesagte bezieht bzw. beziehen sollte. Der Kranke wird uns damit nicht nur im Hinblick auf das Ausgesprochene in vielfältigen Schattierungen zur Frage, sondern auch im Hin- und Hineinhorchen auf das weite Feld des Nicht-Ausgesprochenen. Damit einher geht ein empathiebasiertes, teilhabendes und mittvollzügliches Gewahrwerden der unendlich nuancenreichen „Beredtheit“ der non-verbalen Kommunikation, des „ungesagt Gesagten“, was an Beispielen zu den interpersonalen Implikationen des Blicks, der Mimik, der Bewegungsgestalten, der Timbres etc. veranschaulicht werden wird.

Zudem soll aufgezeigt werden, dass es sich bei der Kunst des Zuhörens um eine nur an der Praxis für die Praxis zu erwerbende, personengebundene Fertigkeit handelt, um ein dispositionelles bzw. implizites Wissen im Sinne eines könnenden Wissens und wissenden Könnens, dessen konstitutive Basis nicht registrierende Neugier, sondern identifizierender Mitvollzug, partizipative Sympathie, ja Liebe im Sinne einer bewusst gehandhabten Selbstlosigkeit ist. Dort, wo dies gelingt, vermag sich unser Zuhören zu steigern: nämlich als Hin- und Hineinlauschen nicht nur in das – dem Kranken mehr oder weniger bewusste – Gesundwerdenwollen, sondern auch hinsichtlich der untergründigen Willensimpulse, Lebenssehnsüchte und Lebensziele – unabhängig, ob diese dem Kranken bewusst oder nicht bewusst sind und damit durchaus auch unabhängig davon, ob diese Begehrlichkeiten, Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte haben ausgesprochen oder nicht ausgesprochen werden können.